Beteiligung an gesellschaftlichen und politischen Prozessen
Das Recht auf Beteiligung ist ein alle Kinderrechte umfassendes Recht, welches in Artikel 12 UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben ist. Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, sich bei allen Fragen zu beteiligen, die sie betreffen. Die stärkere Beteiligung junger Menschen an den gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen ist erklärtes Ziel von Politik und ein wesentlicher Bestandteil politischer Bildung.
Im Fünften und Sechsten Staatenbericht konstatiert die Bundesregierung, dass Kinder- und Jugendbeteiligung im Bund durch die Jugendstrategie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ sowie diverser gesetzliche Vorschriften in den Ländern vorangebracht wird. Der Bericht betont auch die besondere Rolle von Jugendverbänden und beschäftigt sich mit der Entwicklung von repräsentativen Kinder- und Jugendvertretungen. Trotz wachsenden Bemühungen, Beteiligung von jungen Menschen auf allen regionalen und strukturellen Ebenen umzusetzen, findet eine echte Beteiligung nicht immer statt. Entweder werden Kinder und Jugendliche bei relevanten Fragen gar nicht beteiligt oder Formate eingeführt, die eine Scheinpartizipation darstellen. In solchen Fällen laden beispielsweise Politikerinnen und Politiker Kinder und Jugendliche punktuell ein und hören sie an, dann wird aber doch anders entschieden und Kinder und Jugendliche bekommen die Wirkung nicht mit. Das ist jedoch keine qualitätsvolle Beteiligung, bei der Kinder und Jugendliche von Anfang an bei Entscheidungen einbezogen sind und den ganzen Prozess mitgestalten.
Der Nationale Aktionsplan “Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“ wurde am 16. Februar 2005 vom Bundeskabinett beschlossen und hat als ein zentrales Handlungsfeld die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen verankert. Leider ist der NAP nicht fortgeführt worden, obwohl viele der anvisierten Ziele, unter anderem die wirkungsvolle Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, nicht erreicht worden sind.
Eine umfassende und wirkungsvolle Beteiligungspolitik muss Gestaltungsmacht teilen und transparent über die Rahmenbedingungen informieren. Denn echte Mitwirkung beginnt erst, wenn jungen Menschen das Recht eingeräumt wird, angehört zu werden, Initiative ergreifen zu dürfen oder per Delegation von Stimmen mitgestalten zu können. Mitbestimmung setzt aber voraus, auf Entscheidungen Einfluss nehmen und wirksam mitentscheiden zu können.
- Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss die Bundesregierung aufzufordern,
- 39. die Wahlaltersgrenze für Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen ebenso wie für Bürgerentscheide oder -begehren weiter herabzusetzen;
- 40. nachhaltige Beteiligungsprozesse und -strukturen in den unterschiedlichen Bereichen und Ebenen der Kinder- und Jugendpolitik systematisch zu verankern und flächendeckend politische Bildungsarbeit zu fördern, damit Kinder und Jugendliche erkennen und erfahren, welche Rechte ihnen zustehen und wie sie diese einfordern und umsetzen können;
- 41. Jugendverbände als demokratische Form der Selbstverwaltung und Interessenvertretung junger Menschen entsprechend zu berücksichtigen und zu fördern.
Beschwerdeverfahren
In Deutschland gibt es keine generelle Verpflichtung, für Kinder und Jugendliche leicht zugängliche Beschwerdeverfahren einzurichten. Eine gesetzliche Verpflichtung zum Aufbau von Beschwerdeverfahren existiert lediglich im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe in § 45 Abs. 2 SGB VIII, wenn Einrichtungen eine Betriebserlaubnis erlangen müssen. Eine solche Verpflichtung besteht beispielsweise nicht für Schulen, Sportvereine, kulturelle Einrichtungen, Einrichtungen für Geflüchtete und auch nicht auf kommunaler, Länder- und Bundesebene.
- Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss die Bundesregierung aufzufordern,
- 42. in Abstimmung mit den Kommunen und Ländern flächendeckend in sämtlichen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche leicht zugängliche transparente interne und externe Beschwerdemöglichkeiten für Kinder, Eltern und Fachkräfte gesetzlich vorzusehen und für deren Errichtung ausreichende Mittel bereitzustellen;
- 43. durch Änderung von §8 SGB VIII Kindern und Jugendlichen einen unbedingten Anspruch auf Beratung durch das Jugendamt auch ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten gesetzlich einzuräumen.
Beteiligung im Verwaltungshandeln und bei Gerichtsverfahren
Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention normiert das Beteiligungsrecht von Kindern, deren Meinung in allen Angelegenheiten, die sie betreffen, ihrem Alter und ihrer Reife entsprechend zu berücksichtigen ist. Dieses Recht gilt insbesondere auch für Gerichts- und Verwaltungsverfahren. Daraus erwächst zusätzlicher Aufwand für Gerichte und Verwaltungen, denn die Verfahren müssen kindgerecht ausgestaltet werden. Nur mit an die Betroffenen angepassten Beteiligungsverfahren kann zudem eine Ermittlung des Kindeswohls für Entscheidungen i.S.d. Artikel 3 UN-Kinderrechtskonvention vorgenommen werden.
Wie im Staatenbericht dargelegt, wurde die Verfahrensbeistandschaft als Interessenvertretung gesetzlich verankert in §158 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Insgesamt gibt es große lokale Unterschiede hinsichtlich der Ausstattung von Gerichten, der Durchführung von Anhörungen und der Vorgehensweise bei der Bestellung von Verfahrensbeiständen/innen.
Für familiengerichtliche Verfahren existieren gesetzliche Regelungen zur Kinderbeteiligung in § 159 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. In der Praxis findet allerdings nicht immer eine Anhörung statt. Eine Untersuchung von 318 Fällen ergab, dass im Kontext eines Kindeswohlverfahrens 60,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen nicht angehört werden. Bei den 14- bis 18-Jährigen waren es 21,2 Prozent.
Eine Befragung von 48 Kindern und Jugendlichen, die 2014 im Auftrag der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte durch das Deutsche Institut für Menschenrechte durchgeführt wurde, hat ergeben, dass sich Kinder in Gerichtsverfahren häufig sehr schlecht informiert, eingeschüchtert oder von den Erwachsenen nicht ernst genommen fühlen.
In Deutschland gibt es rund 11´000 Kommunen. In etwa 5 Prozent der Kommunen existieren dauerhaft angelegte Kinder- und Jugendgremien. Oftmals sind diese durch Satzungen strukturell abgesichert und verfügen über Beratungs- oder Mitwirkungsrechte. Vielfach wird auf kommunaler Ebene auch auf niedrigschwellige projektorientierte Beteiligungsformen zurückgegriffen, die aber eher punktuell wirken. In etwa 1 bis 2 Prozent der Kommunen arbeiten hauptamtliche Kinderbeauftragte oder es existieren Kinderbüros, die die Interessen der Kinder gegenüber den kommunalen Verwaltungen vertreten. Das ist weit von einer flächendeckenden Absicherung entfernt. Die Aufnahme einer Muss-Bestimmung zur Beteiligung der Kinder in die Gemeindeordnung führt erfahrungsgemäß, gemeinsam mit praxisbezogenen Umsetzungsmaßnahmen durch die Landesebene, zu einer positiven Belebung der Beteiligungsaktivitäten. DIes ist zum Beispiel im Bundesland Schleswig-Holstein zu erkennen, das 2003 die Muss-Bestimmung zu Kinder- und Jugendbeteiligung in die Gemeindeordnung aufgenommen hat.
- Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss die Bundesregierung aufzufordern,
- 44. Kindern und Jugendlichen unabhängig vom Alter die direkte Anhörung in allen sie betreffenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren zu ermöglichen und sie kindgerecht auszugestalten;
- 45. die beteiligten Fachpersonen, darunter Richter/innen, Gutachter/innen und Verfahrensbeistände, ausreichend zu qualifizieren;
- 46. die Kooperation zwischen den Ressorts sowie den im Verfahren involvierten Akteuren verschiedener Fachbereiche zu verbessern;
- 47. bei der Auswahl der Verfahrensbeistände Kindern ein Mitspracherecht einzuräumen;
- 48. aktuelle Studien zur Umsetzung der Kinderrechte in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu fördern, die die Erfahrungen von Kindern und Fachkräften einbeziehen.
Nachtrag zum Thema Beteiligung (20.10.2020)
Das Recht auf Beteiligung aus Art. 12 UN-KRK erlischt in Krisensituationen und ihrer Folgezeit nicht: Kinder sollten vielmehr aufgefordert und in die Lage versetzt werden, bei der Bewältigung der Krise eine aktive Rolle zu spielen. Die Ermittlung des Kindeswohls kann nur dann sachgerecht erfolgen, wenn das Recht auf Gehör und die Berücksichtigung der Meinung des Kindes eingehalten werden. Weil durch die Maßnahmen tief in die Lebenswelt der Kinder eingegriffen wird und bestehende Ungleichheiten verstärkt werden, haben sich die Defizite in der Beteiligung von Minderjährigen an demokratischen Entscheidungsprozessen seit Beginn der Pandemie zugespitzt.
Besonders eindrücklich zeigte sich die mangelnde Beteiligung junger Menschen bei Entscheidungen zu Schulöffnungen und Schulschließungen, der Ausgestaltung des Unterrichts und Schulbetriebs inklusive der Hygienemaßnahmen und des Fernunterrichts. Schülervertretungen, sowohl der einzelnen Schulen als auch auf Landes- und Bundesebene, wurden zu wenig gehört. Bei den Bildungsgipfeln der Bundesregierung wurden weder die direkt betroffenen Kinder noch Fachkräfte verschiedener formaler und non-formaler Bildungseinrichtungen einbezogen, um die Interessen und Bedürfnisse der Kinder zu erörtern und zu beachten. Auch bei Maßnahmen in außerschulischen Bereichen, wie zum Beispiel der Schließung von Spielplätzen und spätere Auflagen für deren Betrieb, wurden die betroffenen Kinder ebenfalls nicht einbezogen.
Kinder, die sich in repräsentativen Foren auf kommunaler und Landesebene engagieren, berichteten von Schwierigkeiten, sich während der Corona-Zeit auszutauschen, was auf technische Probleme und mangelnde Unterstützung zurückzuführen war. Viele Prozesse hätten sich durch die Kontaktbeschränkungen verzögert, weil digitale Strukturen erst aufgebaut werden mussten und verantwortliche erwachsene Betreuerinnen und Betreuer teilweise überfordert waren. Im Übrigen ist auch eine große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland der Ansicht, dass die Interessen von Kindern im Rahmen der während der Corona-Pandemie ergriffenen Maßnahmen nicht so stark oder sogar gar nicht berücksichtigt wurden.
- Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss, die Bundesregierung aufzufordern,
- 01. politische Zugänge für die Interessen von Kindern zu schaffen. Dazu ist eine wirksame und ernst gemeinte Beteiligung auf allen staatlichen Ebenen zu etablieren, um politische Prozesse und Entscheidungen auch in Krisenzeiten an den Bedürfnissen und Interessen von Kindern ausrichten zu können, und darüber ist Rechenschaft abzulegen;
- 02. als Voraussetzung für wirksame Beteiligung Kinder gerade während der Pandemie kindgerecht zu informieren;
- 03. eine Sachverständigenkommission einzurichten unter Beteiligung von Expertinnen und Experten, wie etwa Kinder- und Jugendärztinnen bzw. -ärzten, Pädagoginnen und Pädagogen, Entwicklungspsychologinnen und -psychologen, sowie jungen Menschen selbst zur Erarbeitung von Maßnahmen für den Nachteilsausgleich in Hinblick auf Kinder und Jugendliche und zur wissenschaftlichen Analyse (infolge von Bedarfserhebungen) zu den Folgen der Pandemie für Kinder.