2. Gewalt

2.a Missbrauch und Vernachlässigung

Vorheriges Kapitel
2.d Nachtrag zum Thema Gewalt (20.10.2020)
Nächstes Kapitel
2.b Sexualisierte Gewalt

Das im Januar 2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz hat im Hinblick auf Vernachlässigung und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche grundlegende Regelungen für verschiedene Bereiche geschaffen. So konnte ein flächendeckender Auf- und Ausbau der Frühen Hilfen rund um die Geburt und in den ersten drei Lebensjahren von Kindern durch das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) und durch die Bereitstellung finanzieller Ressourcen erreicht werden.

Weitere Berufsgruppen, die in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen sind, sind nun ebenfalls dem Schutzauftrag bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung verpflichtet (zum Beispiel Ärztinnen, Ärzte sowie Lehrer und Lehrerinnen). Alle Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten und dort betreut, gefördert und unterstützt werden, müssen institutionelle Präventions- und Schutzkonzepte entwickeln. Die Sicherung der Rechte von Kindern auf Schutz vor Gewalt sowie ihre Beteiligungsrechte sind als Bestandteile dieser Konzepte ebenfalls gesetzlich verankert (§§ 45, 79a Sozialgesetzbuch VIII). Unterstützung hierfür erfolgt über die Aktivitäten des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, wie zum Beispiel „Schule gegen sexuelle Gewalt“, die bundesweite Initiative „Trau dich!“ zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch, die Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und das bundesweite Modellprojekt „BeSt“ zur Verbesserung des Schutzes von Mädchen und Jungen mit Behinderung in (teil-)stationären Einrichtungen. Untersuchungen belegen auch, dass Prävention wirkt und innerfamiliäre Gewalt rückläufig ist.

Durch die öffentlich bekannt gewordenen Fälle sexualisierter Gewalt in Institutionen in den 2010er-Jahren sind zahlreiche Studien zu sexualisierter Gewalt auf den Weg gebracht worden, um das Dunkelfeld besser zu erforschen. Gleichzeitig ist jedoch zu konstatieren, dass dies nicht in gleichem Ausmaß für andere Formen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gilt. So gibt es nur wenige aktuelle Studien zur Verbreitung von Erziehungsgewalt, psychischer und physischer Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung oder zur Zeugenschaft elterlicher Partnergewalt. Zahlen für das Hellfeld weist die Polizeiliche Kriminalstatistik aus, verfügbare Zahlen für das Dunkelfeld schwanken je nach Erhebungsdesign. Zu wenig Berücksichtigung findet die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche oftmals nicht nur eine Form der Gewalt erleben und von daher die Korrelationen unterschiedlicher Gewaltformen in den Blick genommen werden müssen.
Da Kinder besonders von Gewalt betroffen sind, benötigen sie auch besonderen Schutz. Die Gefahr, von Gewalt betroffen zu sein, steigt für Kinder deutlich, wenn sie beispielsweise von Rassismus, Homo- und Transphobie oder Antisemitismus betroffen sind.

Die Entwicklung von Präventions- und Schutzkonzepten stellt Institutionen, aber auch Vereine vor große Herausforderungen, insbesondere dann, wenn die Aktivitäten hauptsächlich durch ehrenamtliches Engagement getragen werden. In diesen Kontexten, aber auch auf der kommunalen und der Landesebene fehlen angemessene finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten. So greifen viele auf die bestehenden Fachberatungsstellen bei Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wegen der dort vorhandenen Fachexpertise zurück. Kritisch zu bewerten ist die Tatsache, dass es in den letzten Jahren hier keinen nennenswerten Ausbau gegeben hat. Obwohl die Anfragen bei der Entwicklung von Präventions- und Schutzkonzepten steigen, die Beratung durch insoweit erfahrene Fachkräfte bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung für noch mehr Berufsgruppen hinzugekommen ist, wird in diesen Stellen zumeist mit sehr begrenzten Ressourcen versucht, die gestiegenen Bedarfe zu decken. Gleichzeitig ist festzustellen, dass damit gerade unter dem Aspekt der Barrierefreiheit viele Zielgruppen nicht erreicht werden können oder keinen Zugang haben. Darüber hinaus sind diese Einrichtungen nicht flächendeckend vorhanden.

Angesichts der Zunahme von Mobbing, insbesondere Cybermobbing, kommt der Fort- und Weiterbildung verschiedener Berufsgruppen wie beispielsweise Lehrerinnen, Lehrer und Richterinnen und Richter eine bedeutsame Rolle zu. Trotz des „Aktionsplans 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung“ zählt die Thematisierung der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bis heute nicht zu den verpflichtenden Bestandteilen einschlägiger Berufsausbildungen oder Studiengänge, zum Beispiel bei Lehrpersonen. Auch fehlen Sensibilisierungsprogramme zur Förderung positiver Formen der Kindererziehung. Kommunen sind zwar verpflichtet, entsprechende Elternbildungsprogramme vorzuhalten, ohne dass es jedoch hierfür qualitativ und quantitativ Festlegungen gibt.

So existiert ein unübersichtliches Nebeneinander von Präventionsmaßnahmen und Programmen von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren und Organisationen, die nicht aufeinander bezogen sind und keine verbindende gemeinsame Strategie erkennen lassen.

Im Zuge der Umsetzung des Schutzauftrages bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung haben die Jugendämter zumeist sowohl personell wie organisatorisch und auch qualitativ ihre Möglichkeiten ausgebaut und den gesetzlichen Vorgaben angepasst. Gleichzeitig wird die Überlastung der Sozialen Dienste immer eklatanter: Zu viel Bürokratie, nicht besetzte Stellen, zu hohe Fallzahlen erschweren einen guten Kinderschutz. In der Praxis wird daher an vielen Orten beklagt, dass dies zulasten der Hilfen für Familien geht, die Unterstützung unterhalb der Gefährdungsschwelle benötigen.

  • Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss, die Bundesregierung aufzufordern,
  • 53. eine nationale Präventionsstrategie unter Einbeziehung der Länder und Kommunen zu entwickeln und fortzuschreiben, die vorhandene Programme und Aktivitäten bündelt und aufeinander bezieht sowie verstetigt. Hierzu zählen auch die Aus- und Fortbildung einschlägiger Berufsgruppen sowie die Sensibilisierung von Eltern hinsichtlich Kinderrechten und gewaltfreier Erziehung;
  • 54. durch entsprechende Regelungen im Sozialgesetzbuch VIII eine den Bedarfen angemessene, flächendeckende Ausweitung von Fachberatungsstellen und spezialisierten Angeboten für unterschiedliche Zielgruppen und für alle Formen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche vorzusehen;
  • 55. einen eigenständigen Rechtsanspruch von Kindern und Jugendlichen auf Hilfen zur Erziehung in Ergänzung zu den Eltern gesetzlich zu verankern;
  • 56. die offene Kinder- und Jugendarbeit, die Jugendverbandsarbeit und differenzierte Angebote für Kinder und Jugendliche umfassend zu fördern;
  • 57. die Frühen Hilfen weiter auszubauen, sodass alle werdenden Eltern und jene mit kleinen Kindern von einem vielfältigen Angebot profitieren können;
  • 58. Mitarbeitende in der Kinder- und Jugendhilfe und Verfahrensbeistände hinsichtlich Erkennen, Beurteilen und Handeln im Kinderschutz umfassend zu qualifizieren;
  • 59. verpflichtende Fortbildungen für Richterinnen, Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte einzuführen, damit die Justiz kindgerechter wird und den Kindern ihr Recht auf Anhörung angemessen gewährt wird;
  • 60. langfristige Forschungsaktivitäten zu allen Formen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, einschließlich Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, ab dem Zeitraum rund um die Geburt anzustoßen, um mehr Einblick in das Dunkelfeld zu erlangen und somit auch bessere Grundlagen für die Präventionsarbeit zu gewinnen.

Kinderschutz in der digitalen Welt

Für die Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am sozialen Leben ist die Nutzung des Internets und der digitalen Medien ein zentraler Bestandteil ihres Alltags. Der digitale Exhibitionismus nimmt nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei immer jüngeren Kindern und Jugendlichen zu. Die unbegrenzte Verfügbarkeit von sexuellen Online-Inhalten und die digitalen Medien bergen das Risiko, sexualisierte Gewalt zu erfahren, zum Beispiel Cybergrooming und Prostitution über eine Webcam; das heißt, die Digitalisierung schafft und verstärkt neue Formen von Ausgrenzung, Diskriminierung und sexualisierter Gewalt, die vor allem über die sozialen Medien schnell Verbreitung finden.

Täter und Täterinnen nutzen Alltagsbilder, Posingbilder und sexualisierte Darstellungen von Kindern, um Kinder sexuell auszubeuten. Obwohl auch das Posing seit 2015 unter Strafe gestellt wurde, können in Deutschland nicht alle Taten auf ihre strafrechtliche Relevanz hin geprüft werden. Dies hängt mit der Masse der im Netz befindlichen sexuellen Missbrauchsbilder, mit der in Deutschland sehr eingeschränkten Vorratsdatenspeicherung und den technischen Möglichkeiten der Täter und Täterinnen zusammen, keine Spuren zu hinterlassen.

  • Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss die Bundesregierung aufzufordern,
  • 61. bestehende gesetzliche Lücken zum Schutz von Kindern im digitalen Raum zu schließen und die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, den Schutz der Kinder umzusetzen;
  • 62. ein Kinder- und Jugendmedienschutzgesetz zu entwickeln, das auch die Förderung und Stärkung der Kinder und Jugendlichen in Bezug auf eine kritische digitale Medien- und Internetnutzung beinhaltet;
  • 63. das Netzwerkdurchsetzungsgesetz vom 1. September 2017, das auch die Gaming-Industrie in die Verantwortung nimmt, an aktuelle Entwicklungen anzupassen;
  • 64. ausreichende Ressourcen, einschließlich Mitteln für Forschung, für den Kinderschutz in der digitalen Welt bereitzustellen.
Vorheriges Kapitel
2.d Nachtrag zum Thema Gewalt (20.10.2020)
Nächstes Kapitel
2.b Sexualisierte Gewalt