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4.b Gesundheit

Die Rechte von Kindern mit Behinderung sind sowohl in Artikel 23 der UN-Kinderrechtskonvention als auch in der UN-Behindertenrechtskonvention explizit verankert. Dennoch werden in Deutschland Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung von vielen gesellschaftlichen Lebensbereichen ausgeschlossen.

Grafik: Léon Giogoli

Artikel 23 der UN-Kinderrechtskonvention beschreibt das Recht eines Kindes mit Behinderung auf ein erfülltes Leben in Würde und Selbstständigkeit sowie auf aktive Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Zwar können Kinder mit Behinderung in Deutschland grundsätzlich ein erfülltes Leben führen. Ob das gelingt, ist jedoch stark abhängig vom Wohnort, von den finanziellen und familiären Ressourcen, dem Zugang zu Bildung und Informationen.

Inklusion in der Schule

Ein bedeutender Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe ist inklusive Bildung. Bundesweit erhalten 7,1 Prozent aller Schüler und Schülerinnen sonderpädagogische Förderung. Davon werden lediglich 39 Prozent inklusiv beschult. Mit Blick auf die unterschiedlichen Schularten haben Gesamt- und Hauptschulen den höchsten Inklusionsanteil. Mehr als 5 Prozent der Schüler und Schülerinnen dort werden sonderpädagogisch gefördert. Inklusive Beschulung an Gymnasien bleibt mit einem Inklusionsanteil von 0,3 Prozent immer noch die Ausnahme.

Zudem führt das föderale Bildungssystem zu ungleichen Bildungschancen aufgrund unterschiedlicher Schulgesetze und Rahmenbedingungen. Bundesländer wie Bremen, Berlin und Schleswig-Holstein erzielen mit Blick auf die Inklusionsquote Erfolge im gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung. Dagegen steigt der Anteil von Kindern, die in Förderschulen lernen, im Süden Deutschlands. Auch im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung gibt es Unterschiede. Damit Inklusion in der Schule gelingen kann, sollten eine Reihe von Voraussetzungen und Rahmenbedingungen erfüllt sein. So braucht es unter anderem Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen in allen Inklusionsklassen, kleinere Klassengrößen, pädagogische Inklusionskonzepte. Dies ist auch in Ländern mit hohen Inklusionsquoten nicht immer gegeben.

Übergang Schule – Beruf

Der Übergang von der Schule in die Ausbildung ist eine wichtige Schlüsselpassage, die einen großen Einfluss auf die weitere Teilhabe der Jugendlichen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben hat. Im Abgangsjahrgang 2014 waren fünf von zehn Schülern und Schülerinnen ohne allgemeinbildenden Schulabschluss von Förderschulen. Sie werden dadurch auf dem Ausbildungsmarkt benachteiligt. Zum Ende des Jahres 2014 zeichnete sich zudem ein starker Rückgang der Ausbildungsverhältnisse in besonderen Berufen für Menschen mit Behinderung nach § 66 Berufsbildungsgesetz (BBiG)/§ 42m Handwerksordnung (HwO) ab.

Trotz der Vielzahl an Berufsbildungsangeboten fehlt es insbesondere an inklusiv gestalteten und gleichzeitig auf Inklusion am Berufsleben ausgerichteten Bildungsangeboten für Jugendliche, die keinen Berufsausbildungsabschluss erreichen können. Existierende Angebote sind eher separierend und richten sich, aufgrund der verschiedenen zuständigen Rechtskreise und der damit gewachsenen Strukturen, nach wie vor weitestgehend auf spezielle Zielgruppen aus.

Inklusive Kinder- und Jugendhilfe

Seit vielen Jahren wird die Alleinzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen gefordert. Derzeit sind die Zuständigkeiten geteilt: Während die Sozialhilfe Leistungen der Eingliederungshilfe bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger oder körperlicher Behinderung verantwortet, ist die Kinder- und Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung zuständig.

Diese komplexe rechtliche Situation bringt Schnittstellenprobleme mit sich und erschwert die Teilhabe junger Menschen. Die Teilung der Zuständigkeiten führt zu einer unangemessenen „Zuständigkeitsdiagnostik“, mit der Folge, dass Hilfen und Förderung nicht an den Bedürfnissen des Kindes orientiert sind. Die Umsetzung der Gesamtzuständigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe darf nicht auf einen neuen Leistungstatbestand sowie eine Neugestaltung der Rechtsansprüche reduziert werden. Vor allem bedarf es für die gesamte Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe sowohl einer konzeptionellen Weiterentwicklung als auch einer inklusiven Ausgestaltung des Leistungsangebotes mit der entsprechenden Haltung und Qualifizierung der Beteiligten. Kindern mit Behinderung darf der Zugang zu Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch VIII nicht verwehrt bleiben.

Inklusion in der Freizeit

Außerschulische Aktivitäten im Kinder- und Jugendalter sind wichtige Orte der Identitätsentwicklung, wie zum Beispiel bei der Entstehung von Peer-Bezügen. Eine Möglichkeit der Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen bietet die Kinder- und Jugendarbeit. Laut 15. Kinder- und Jugendbericht zählen Inklusion und Teilhabe junger Menschen mit Beeinträchtigung zu den zentralen Aufgaben für die Kinder- und Jugendarbeit. Die Zahl der Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, die auch von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher Behinderung genutzt werden, nimmt zu. Jugendliche mit geistiger Beeinträchtigung nutzen vielerorts allerdings eher spezielle Angebote der Behindertenhilfe. Auch hier gibt es regionale Unterschiede und zeigt sich die Bedeutung der materiellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen: Jugendliche mit Behinderung nutzen die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit eher, wenn diese mit Einrichtungen der Behindertenhilfe kooperieren oder speziell qualifizierte Fachkräfte beschäftigen.

Schutz vor sexualisierter Gewalt von Mädchen mit Behinderung

Mädchen und junge Frauen mit Behinderung sind der Personenkreis, der statistisch am häufigsten von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Im Gegensatz zur Kinder- und Jugendhilfe gibt es in Diensten und Einrichtungen der Behindertenhilfe keine bundesweite Regelung zu Schutzkonzepten. Hier bedarf es dringend rechtlicher Änderungen.

Schutz und Unterstützung für Kinder mit Migrationshintergrund und Behinderung

Laut Teilhabebericht der Bundesregierung von 2016 sind Menschen mit Behinderung und sogenanntem Migrationshintergrund besonders von gesellschaftlicher Exklusion bedroht. Es fehlen nicht nur Unterstützungs- und Informationsmöglichkeiten für Eltern von Kindern mit Behinderung und mit sogenanntem Migrationshintergrund, sondern auch Strukturen und Netzwerke in der Zivilgesellschaft, welche die Belange von Menschen mit Behinderung und sogenanntem Migrationshintergrund in politischen Prozessen auf der Bundesebene vertreten oder berücksichtigen.

Inklusion als zentraler gesellschaftlicher Prozess

Inklusion ist ein Menschenrechtsprinzip, das die Teilhabe von Menschen in allen Lebensbereichen verwirklicht. Solange viele Kinder mit Behinderung von zentralen Lebensbereichen des gesellschaftlichen Miteinanders wie Bildung, Freizeit, Kultur und Arbeit weiterhin ausgeschlossen werden, ist die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention sowie der UN-Behindertenrechtskonvention noch nicht erreicht. Darüber hinaus muss Inklusion als Prozess gesehen werden, der über die schulische Bildung hinaus verstanden und weiterentwickelt werden sollte. Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die aus der Peripherie ins Zentrum der politischen Debatte rücken muss. Inklusion betrifft nicht nur den Bildungsbereich, sondern umfasst das gesamte Lebensumfeld eines Kindes. So ist die Politik auch in angrenzenden Bereichen zu Themen wie Stadtplanung, Mobilität oder Sport und Kultur gefordert.

  • Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss, die Bundesregierung aufzufordern,
  • 86. Schutzkonzepte in Diensten und Einrichtungen der Behindertenhilfe, insbesondere zum Schutz von Mädchen und jungen Frauen mit Behinderung, rechtlich zu verankern;
  • 87. bundesweit einheitliche Standards zur inklusiven Ausrichtung des Bildungssystems und pädagogischen Qualifizierung der Fachkräfte zu schaffen, um Chancenungleichheit aufgrund des Wohnortes, des Förderschwerpunkts oder aufgrund fehlender notwendiger Ressourcen entgegenzuwirken;
  • 88. eine bundeseinheitliche Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen, unabhängig von ihrem Bedarf und ihrer Art der Behinderung, einzuführen. Der Übergang von der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe in ein reformiertes Sozialgesetzbuch VIII muss so geregelt sein, dass keine Leistungslücken oder Betreuungsabbrüche entstehen;
  • 89. bundesweit geltende Qualitätsstandards für Ausbildungsangebote für Jugendliche mit Behinderung festzulegen. Es müssen die Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts und der Rehabilitationssysteme gleichermaßen weiterentwickelt und angepasst werden, um Jugendlichen mit Behinderung die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben zuteilwerden lassen;
  • 90. inklusive Angebote im Kinder- und Jugendhilfegesetz für Kinder mit Behinderung gesetzlich zu verankern;
  • 91. eine bundesweite Förderlinie zur Schnittstelle Behinderung und Migration zu entwickeln, um für eine kultursensible Arbeit in Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe behinderungsspezifische Fachkenntnisse mit Kenntnissen der kultursensiblen Arbeit zu verknüpfen.
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