Das Gleichheitsgebot und der Schutz vor Diskriminierung sind Kernelemente des Menschenrechtsschutzes, die ihr Fundament in der Menschenwürde finden, die allen Menschen gleichermaßen zukommt. Kinder und Jugendliche sind jedoch im Alltag von verschiedensten Formen von Diskriminierung, Benachteiligung und Mobbing betroffen. So sind individuelle, einstellungsbedingte Formen der Diskriminierung zu beobachten (zum Beispiel Ageism, Sexismus, Antisemitismus, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit). Unterschiedliche Formen der Diskriminierung sind intersektional, können gleichzeitig auftreten und einander verstärken. Auch strukturelle und institutionelle Diskriminierung, zum Beispiel im Rahmen des Schulsystems, findet statt. Hier werden regelmäßig Kinder und Jugendliche benachteiligt – insbesondere mit Blick auf die soziale und kulturelle Herkunft – sowie mit Bezug auf Behinderungen oder Beeinträchtigungen (siehe Kapitel 7).
Ein gravierendes Problem ist weiterhin der Anstieg rechtsextremistischer Haltungen und antidemokratische Einstellungen. Polarisierungen sowie menschenfeindliche und extremistische Ideologien in Deutschland und Europa nehmen zu und machen ein sehr viel stärkeres Engagement für den wirksamen Schutz vor Diskriminierung und geeignete Präventionsmaßnahmen in allen Lebensbereichen notwendig. Dabei müssen insbesondere diejenigen Gruppen von Kindern und Jugendlichen in den Blick genommen werden, die von Diskriminierung, Benachteiligung oder Mobbing besonders stark betroffen sind, was beispielsweise durch Studien der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die Leipziger Autoritarismus-Studien und für den Bildungsbereich durch internationale Bildungsvergleichsstudien wie PISA hinreichend belegt ist. Dies sind vor allem Kinder mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, Roma-Kinder, Kinder mit Behinderungen und solche, die sich als LGBTI identifizieren.
Bei der Kategorisierung von Diskriminierungen besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel, dadurch Diskriminierung zu bekämpfen, und der Gefahr, Kinder und Jugendliche in festgelegte Kategorien zu ordnen und auf Diskriminierungsmerkmale zu reduzieren. Der Abbau von Diskriminierung und Barrieren muss jedoch als gesellschaftlicher Wandel begriffen werden: Nicht die Kinder und Jugendlichen, die Diskriminierung erfahren, sind das Problem, sondern individuelle, institutionelle und strukturelle Barrieren, die zu Benachteiligungen und Diskriminierungen führen.
Die Bundesregierung berichtet von einer Erhöhung der Ressourcen für Programme gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit, doch setzt sie vor allem auf zeitlich befristete Programme und Projekte, statt auf eine Stärkung nachhaltiger Kompetenz und Infrastruktur. Eine an Kinderrechten orientierte überbehördliche Gesamtstrategie fehlt ebenso wie eine verlässliche, langfristig abgesicherte Infrastruktur gegen Diskriminierung und für die Akzeptanz von Vielfalt.
Gesellschaftliche Polarisierungen und strukturelle Diskriminierung betreffen ganz besonders geflüchtete Kinder und Jugendliche, die gemäß Artikel 22 UN-Kinderrechtskonvention besondere Schutzrechte haben beziehungsweise solche, die einer anerkannten Minderheit angehören, vor allem die deutschen Sinti und Roma. Den Zugang zu Schule erhalten begleitete minderjährige Flüchtlinge häufig erst nach ihrer kommunalen Verteilung. Dies kann sich bis zu zwei Jahre oder sogar bis zur Beendigung des Aufenthalts hinziehen und ist herkunftsland- sowie bundeslandabhängig. Geflüchtete Kinder und Jugendliche leiden dabei auch unter strukturellen Benachteiligungen, weil sie Leistungen zur Unterbringung, Gesundheitsversorgung oder Bildung – im Gegensatz zu anderen Kindern – über das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten. In den Bildungseinrichtungen werden geflüchtete Kinder in gesonderten Klassen untergebracht. Sie sind teilweise mit einem rassistischen Klima konfrontiert, von dem auch Kinder und Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund überdurchschnittlich oft betroffen sind. Insbesondere werden sie häufiger in Schulen und beim Zugang zu Ausbildung diskriminiert, erhalten schlechtere Noten und weniger günstige Empfehlungen für die weiterführenden Schulen. Diese seit Jahrzehnten bekannte Bildungsmisere hat massive negative Folgen für die Lebenswege der Kinder.
Auch die Differenzierung des deutschen Fördersystems kann Diskriminierung begünstigen. Dies betrifft insbesondere Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung, denn sie werden unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen zugeordnet. Für Kinder und Jugendliche gelten generell Vorgaben des Sozialgesetzbuches VIII. Körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche bekommen jedoch grundsätzlich Hilfen aus dem Sozialgesetzbuch XII (§ 10 Sozialgesetzbuch VIII, ab 2020 Sozialgesetzbuch IX) und damit aus anderen behördlichen Zusammenhängen. Im Hinblick auf die umfassende Wahrung der Interessen und Rechte von Kindern mit Behinderungen und den Abbau von Diskriminierungen und Barrieren ist es daher erforderlich, das Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfe) durchgehend inklusiv auszugestalten und die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention konsequent umzusetzen.
Inklusion versteht die National Coalition Deutschland als Menschenrechtsprinzip, das unmittelbar verknüpft ist mit dem Anspruch auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Anfangs vor allem auf die UN-Behindertenrechtskonvention bezogen, hat sich das Verständnis von Inklusion geweitet und steht heute für den Abbau struktureller Barrieren, die Teilhabe einschränken oder verhindern. Inklusion bedeutet, dass kein Mensch ausgeschlossen, ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt werden darf. Die Individualität und die Rechte eines jeden Menschen müssen anerkannt und wertgeschätzt werden, unabhängig von Geschlecht oder Gender, Alter, Herkunft oder Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung, Bildung oder sozialer Lebenslage, von eventuellen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen sowie sonstigen individuellen Besonderheiten oder sozialen Zuschreibungen.
Die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung machen immer wieder deutlich, dass in Deutschland mehr Kinder und Jugendliche in Armut leben als bisher bekannt. Davon betroffen sind vor allem Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund, Kinder von Alleinerziehenden und aus Familien, die staatliche Zuwendungen aufgrund zu großer bürokratischer Hürden nicht in Anspruch nehmen können. Jedes fünfte Kind (21 Prozent) in Deutschland lebt über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren dauerhaft oder wiederkehrend in einer Armutslage, und weitere 10 Prozent machen temporäre Armutserfahrungen. In Deutschland bedeutet dies nicht, dass die existenziellen Grundbedürfnisse nicht gesichert sind, aber für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Familien hat Armut facettenreiche Folgen: Sie nehmen an weniger Freizeitaktivitäten teil, haben weniger Freunde, werden ausgegrenzt und trauen sich seltener hohe Bildungsabschlüsse zu. Der Abbau von Hürden, um finanzielle staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist wichtig, aber nicht hinreichend, um Diskriminierung aufgrund von Armut zu bekämpfen. Zudem wirkt Armut wie ein „Verstärker“ für andere Dimensionen von Diskriminierung und führt so zu einer Kumulierung von Benachteiligung und Verunsicherung.
Mit Blick auf die Geschlechtergerechtigkeit haben die öffentlichen Diskussionen unter dem Hashtag #metoo auch in Deutschland die weite Verbreitung von Sexismus und sexualisierter Gewalt gegen Mädchen und Frauen deutlich gemacht. Organisationen und Einzelpersonen, die sich aktiv für Geschlechtergerechtigkeit bei Kindern und Jugendlichen einsetzen, stehen zunehmend unter Beschuss von rechtsextremen und populistischen Gruppierungen. Die bereits vorhandenen Angebote der Bundesregierung reichen hier deshalb nicht aus. Auch die Kampagnen zum Abbau von Geschlechterstereotypen (wie zum Beispiel die Girlsʼ oder BoysʼDays) sind bei jungen Menschen nach wie vor nicht ausreichend bekannt. Hier sind regelmäßige Informationen und Kampagnen notwendig, zum Beispiel durch Aufklärungsarbeit in den Schulen, Social Media sowie eine sensibilisierende Bildungs- und Aufklärungsarbeit für alle Kinder und Jugendlichen.
Die Situation von lesbischen, schwulen, transidenten und intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen ist nach wie vor zu wenig im Blick. Die Bedingungen ihres Aufwachsens können nach wie vor problematisch sein, etwa mit Blick auf eine höhere Suizidneigung oder Alkohol- und Drogenkonsum. Sie sind zudem einer erhöhten Gefahr von alltäglichen Diskriminierungen und Ausgrenzungen ausgesetzt. Durch ihre quantitative Unterrepräsentanz sind sie zudem mit zusätzlichen Risiken für das Aufwachsen konfrontiert.
- Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss, die Bundesregierung aufzufordern,
- 23. eine ressortübergreifende Gesamtstrategie gegen Diskriminierung und erstarkende gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu entwickeln;
- 24. den Abbau von Diskriminierungen und die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit durch eine Förderpolitik zu unterstützen, die neben Innovationen auch umfassende Investitionen für eine verlässliche und nachhaltige Infrastruktur sichert;
- 25. Barrieren und Partizipationshindernisse fortlaufend unter Beteiligung der Zivilgesellschaft sowie der Kinder und Jugendlichen zu analysieren und Strategien zum Abbau zu entwickeln;
- 26. Förderinstrumente so flexibel zu gestalten, dass sie Diskriminierungen beseitigen helfen, ohne Kinder und Jugendliche in starre Kategorien einzuordnen. Die Förderungen sollen vorrangig dem Zweck dienen, Kinder und Jugendliche vor Diskriminierung zu schützen, sie nicht zu „kategorisieren“ und erneut zu diskriminieren;
- 27. unter Beteiligung der Zivilgesellschaft und aller relevanten Akteure und Akteurinnen fortlaufend die Diskriminierungstatbestände im Bildungssystem zu analysieren, Änderungsvorschläge aufzugreifen, Förderprogramme zu entwickeln und dadurch Diskriminierungen und Benachteiligung abzubauen.
Intersexuelle Kinder
Intersexuelle beziehungsweise intergeschlechtliche Kinder spiegeln eine natürliche Variation der Vielfalt menschlichen Lebens wider. Ihre kinderrechtlichen Anliegen umfassen die Achtung des Kindeswohls, das gesetzliche Verbot geschlechtskorrigierender Operationen ohne die informierte Einwilligung und Partizipation der Kinder, bis diese ein Alter erreicht haben, in dem sie aufgeklärt und selbstbestimmt Entscheidungen treffen können. Sie brauchen angemessene Informations-, Rechtsschutz- und Entschädigungsmöglichkeiten sowie einen nicht diskriminierenden Geschlechtseintrag im Personenstandsrecht. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau und der UN-Ausschuss gegen Folter sprechen hinsichtlich der Rechte intersexueller Menschen weitreichende Empfehlungen aus.
Freiwillige Selbstverpflichtungen oder Leitlinien reichen für den umfassenden Schutz der Rechte intersexueller Kinder und Jugendlicher nicht. In zwei Untersuchungen wurde gezeigt, dass normangleichende Operationen trotz geltender Leitlinien weiterhin in großer Zahl an Kindern durchgeführt werden: 2016 wurden 2.079 „feminisierende“ (plastische OPs der Vulva, Vagina, Klitoris) oder „maskulinisierende“ Operationen (des Hodens, Hodensacks und Penis) durchgeführt. Die Bundesregierung hatte im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD angekündigt, gesetzlich klarzustellen, „dass geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwendung von Lebensgefahr zulässig“ sind. Diese Klarstellung ist bis zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Berichtes nicht erfolgt.
Unter dem Label „Intergeschlechtlichkeit“ beziehungsweise „Intersex“ werden sehr heterogene Befunde zusammengefasst. In zahlreichen Fällen können dabei weder Eltern noch Ärztinnen und Ärzte die geschlechtliche Entwicklung eines Kindes vorhersehen. Deswegen muss die informierte Entscheidung des Kindes als Rechtssubjekt an erster Stelle stehen. Dies bedeutet auch, dass eine elterliche Entscheidung das Einverständnis des Kindes nicht ersetzen kann.
Die Bundesregierung erwähnt im Staatenbericht Flyer, einen Leitfaden für Beratungsstellen sowie Studien zu Unterstützungs- und Beratungsbedarfen von intersexuellen Kindern, Jugendlichen und ihren Angehörigen. Sie geht jedoch nicht auf das nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Oktober 2018 verabschiedete Gesetz zur Reform des Personenstandsrechts ein. Es schafft die neue Option des Geschlechtseintrags „divers“, der jedoch eine medizinische Begutachtung voraussetzt. Diese medizinische Begutachtung widerspricht dem Zweck des Gesetzes, da ein offener und damit diskriminierungsfreier Geschlechtseintrag für alle Kinder durch den Zwang zur medizinischen Begutachtung nicht geachtet wird.
- Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem UN-Ausschuss, die Bundesregierung aufzufordern,
- 28. dass sie als Zusatz in § 1631 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sicherstellt, dass geschlechtszuweisende Operationen an minderjährigen intergeschlechtlichen Menschen ohne deren ausdrückliche Einwilligung nicht mehr durchgeführt und Zuwiderhandlungen unter Strafe gestellt werden;
- 29. den Zwang zur medizinischen Begutachtung vor Eintrag des Personenstands „divers“ abzuschaffen, um die Selbstbestimmungsrechte intersexueller und transidenter Kinder beim Geschlechtseintrag in die Personenstandsdokumente diskriminierungsfrei zu achten;
- 30. systematisch und kontinuierlich aktualisierte Informationen und Aufklärung über den Schutz und die Rechte intersexueller Kinder bereitzustellen, insbesondere bei relevanten Berufsgruppen und auch in der Ausbildung an Fach- und Hochschulen sowie als Teil der politischen Bildung und Menschenrechtsbildung;
- 31. die systematische, qualitativ hochwertige individuelle und kontinuierliche gesundheitliche Versorgung für intersexuelle Kinder, Jugendliche und ihre Familien flächendeckend und zeitlebens sicherzustellen;
- 32. Rechtssicherheit und Rechtsschutz für Betroffene von genitalchirurgischen Eingriffen zu schaffen und Möglichkeiten der Entschädigungsleistungen für erfahrenes Unrecht zu prüfen.