6. Flucht und Ausbeutung

6.e Nachtrag zum Thema Geflüchtete Kinder (20.10.2020)

Nächstes Kapitel
6.a Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Die Pandemie hat negative Auswirkungen auf Entwicklungschancen und Resilienz geflüchteter Kinder und Jugendlicher in Ankunfts- und Großunterkünften. Wo Kinderrechte durch räumliche und soziale Isolation, eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten, beengte Wohnverhältnisse, fehlende Privatsphäre und eingeschränkten Zugang zu Bildung ohnehin nicht gewahrt werden, verschärft die Pandemie diese Gefährdung, insbesondere auch für Mädchen.

Die Auswirkungen der Pandemie auf die Situation geflüchteter Kinder und Jugendlicher in Aufnahmeeinrichtungen werden bislang weder dokumentiert noch statistisch erhoben. Der Mangel an Daten erschwert eine Quantifizierung und Qualifizierung von Missständen, zum Beispiel auch zu rassistischen Gewalttaten. Es sind also lediglich punktuelle und lokale Informationen verfügbar, die aber Hinweise auf strukturelle Mängel geben.

Begleitete Minderjährige unterliegen der Pflicht, in Aufnahmeeinrichtungen zu leben. Dort leben sie permanent unter beengten Bedingungen, die Privatsphäre ist eingeschränkt, Erfahrungen von Gewalt und einer Atmosphäre der Angst vor Abschiebungen prägen den Familienalltag (vgl. entsprechend 5./6. Ergänzender Bericht an die Vereinten Nationen, S. 62 ff). Kinder und Jugendliche sind in Unterkünften auch besonders der Gefahr ausgesetzt, sich zu infizieren, weil Regeln zum Infektionsschutz aufgrund der Wohnverhältnisse nicht eingehalten werden können.

Isolation und Ausgeschlossenheit aus gesellschaftlichen Bezügen sind Herausforderungen, die insbesondere in Aufnahmeeinrichtungen ohne Anschluss an die kommunale Regelversorgung auftreten. Unterbringungsinterne Kindertagesbetreuung und Bildungsersatzangebote können Regelstrukturen nicht ersetzen und beeinträchtigen das Recht der Kinder auf Bildung und Entwicklung. Benachteiligungen im Bildungssystem wurden in der Zeit von März bis Juni verstärkt durch Kita- und Schulschließungen. Gerade für Kinder, die Deutsch nicht als Muttersprache haben, sind externe Bildungsangebote außerhalb der Familie essenziell, um ihnen langfristig Teilhabe und Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft zu ermöglichen.

Den Schulausfall von zu Hause aus zu kompensieren ist in Unterkünften ungleich schwieriger als in Wohnungen. Der Zugang zu Materialien und Fernunterricht sowie der Kontakt zu Lehrkräften war in der Regel durch mangelnde technische Voraussetzungen, sprachliche Schwierigkeiten der Eltern, mangelnde Möglichkeiten des eigenständigen Lernens auf beengtem Raum stark eingeschränkt.

Der Zugang zur Jugendhilfe ist in Aufnahmeeinrichtungen trotz des gesetzlichen Anspruchs für begleitete Minderjährige strukturell in der Regel nicht gegeben. Angebote der Kinder- und Jugendhilfe erreichen Familien in Unterkünften erst, wenn kindeswohlgefährdende Situationen bereits eingetreten sind. Kinderrechtlich geschulte Fachkräfte fehlen trotz vorhandener Schutzkonzepte. In der Zeit von März bis Juni 2020 gab es eine noch geringere Anbindung an die Kinder- und Jugendhilfe, da durch die Pandemie ein verstärkter Fachkräftemangel unter anderem in Jugendämtern vorherrschte und viele staatliche Mitarbeitende keine externen Termine wahrnehmen konnten. In Fällen von Kinderschutzmeldungen durch Fachkräfte in Unterkünften erfolgte während der Monate März bis Juni 2020 Erfahrungsberichten zufolge mitunter keine Reaktion durch das Jugendamt.

Freizeit-, Sport-, Bildungs- und pädagogische Angebote inner- und außerhalb der Unterkünfte wurden seit Beginn der Kontaktbeschränkungen im März 2020 ersatzlos gestrichen. Kinder und Jugendliche verloren so die Möglichkeiten, jenseits der in aller Regel nicht kindgerechten Situation in den Unterkünften Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen, stützende Netzwerke und stärkende Kontakte zu Pädagoginnen und Pädagogen aufrechtzuerhalten.

Limitierte Besuchsrechte schränken die Möglichkeiten eines autonomen Soziallebens ohnehin massiv ein. Durch Covid-19 wurden in zahlreichen Unterkünften weitere Restriktionen eingeführt. So wurden im Zeitraum von März bis Juli 2020 einige Unterkünfte komplett geschlossen, erlaubten keine Besuche mehr oder wurden zum Teil im Falle positiv getesteter Bewohnerinnen und Bewohner vollständig unter Quarantäne gestellt. In diesem Kontext kam es zu verstärktem (Wieder-)Erleben von Polizeigewalt oder zu rassistischen Vorfällen im Kontext von Polizeieinsätzen.

Kinder und Jugendlichen fällt wegen ihrer oft besseren Deutschkenntnisse innerhalb der Familie große Verantwortung für Informationen über alltägliche Abläufe zu. Informationen zu Covid-19 und den jeweils geltenden Bestimmungen lagen jedoch weder in kindgerechter Form noch flächendeckend in verschiedenen Sprachen vor, was für Familien in Unterkünften zu Verunsicherungen und Ängsten führte.

Unsicherheiten in Verfahren durch die Unerreichbarkeit zuständiger Behörden verstärken die asyl- und aufenthaltsrechtlich bedingte Verunsicherung der Eltern, die sich auf Kinder auswirkt. Beratungsstellen und Anwältinnen bzw. Anwälte waren über Monate nicht erreichbar, was ebenfalls Ängste schürte.

Auch für Familienzusammenführungen entstanden erhebliche zusätzliche Hindernisse und Zeitverzögerungen: Die Pandemie hat die Antragsannahme und -bearbeitung durch die Internationale Organisation für Migration und das Auswärtige Amt verlängert. Schließungen von Botschaften und Abzug von Personal führten zu geringeren Bearbeitungskapazitäten. So haben die deutschen Auslandsvertretungen weltweit im ersten Quartal 2020 insgesamt 4.059 Visa erteilt, im zweiten Quartal 2020 wurden dagegen nur 220 Visa zum Familiennachzug zu schutzberechtigten Personen ausgestellt. Das stellt einen pandemiebedingten Rückgang um 96 Prozent dar. Das gesetzlich eingeräumte Kontingent von 1.000 erlaubten Familiennachzügen pro Monat wurde in dieser Zeit also nicht ausgeschöpft.

Daneben erschwerten der stark eingeschränkte weltweite Reiseverkehr, Grenzschließungen und erhöhte Einreiserestriktionen die faktische Möglichkeit, aus dem Ausland nach Deutschland zu gelangen. Drittstaatsangehörige, deren Visum nach dem 15. März 2020 zur Einreise nach Deutschland berechtigt hätte, jedoch aufgrund der Reisebeschränkungen nicht zur Einreise nach Deutschland genutzt werden konnte und in der Folge im Ausland abgelaufen ist, konnten eine sogenannte Neuvisierung beantragen, sobald die Reisebeschränkungen aufgehoben wurden.

Positiv hervorzuheben ist, dass in diesen Neuvisierungs-Verfahren keine erneute Altersprüfung durchgeführt wurde, also zwischenzeitlich eingetretene Volljährigkeit unbeachtlich ist und das Alter zum Zeitpunkt des Erstantrags zählt. Aus kinderrechtlicher Perspektive negativ anzumerken ist aber, dass das Vorliegen verschiedener anderer Antragsvoraussetzungen erneut durch die antragstellenden Personen dargelegt werden musste und hierdurch erneute Verfahrenshürden geschaffen wurden, die die Antragstellenden zusätzlich belasten. Insbesondere das Vorliegen besonderer humanitärer Gründe gemäß § 23 AufenthG musste erneut dargelegt werden. Dies hat weitere Zeitverzögerungen zur Folge, in denen Familien getrennt bleiben müssen.

Auch Familienzusammenführungen innerhalb der EU gestalteten sich durch den Ausbruch der Pandemie schwieriger als zuvor. Die Verfahrensdauern verlängerten sich teilweise durch Fehler bei der Zustellung und zusätzliche Terminprobleme, insbesondere bei Familienzusammenführungen von Griechenland nach Deutschland. Dies fällt vor allem vor dem Hintergrund bekanntermaßen gravierender Hygienemängel in den Unterbringungen auf den griechischen Inseln und der dadurch konstant hohen Ansteckungsgefahr mit Covid-19 für alle Bewohnerinnen und Bewohner, auch Kinder, ins Gewicht.

Abschiebungen von Familien mit Kindern in Risikogebiete finden wieder vermehrt statt. Die in Sammelunterkünften vorhandene Angst vor Abschiebung verstärkt sich, ergänzt um die Sorge um das damit verbundene gesundheitliche Risiko. Die Ängste der Eltern übertragen sich auf die Kinder.

  • Die National Coalition Deutschland empfiehlt dem Ausschuss, die Bundesregierung aufzufordern,
  • 01. Asylsuchende zeitnah auf die Kommunen zu verteilen und die Pflicht, in einer Aufnahmeeinrichtung leben zu müssen, auf maximal einen Monat zu beschränken. Geflüchtete Familien sollen schnellstmöglich dezentral in kleinen Wohneinheiten oder Wohnungen untergebracht werden;
  • 02. den Zugang zur Jugendhilfe gerade jetzt für geflüchtete Kinder durch Aufstockung von qualifiziertem und für die Lebenssituation in Unterkünften sensibilisiertem Personal zu ermöglichen. Fachkräfte sollen für den Umgang mit Corona und anderen Krisen in der Arbeit mit geflüchteten Familien und Kindern weitergebildet werden, sodass sie beispielsweise auch unter erhöhten Hygiene- bzw. Sicherheitsmaßnahmen weiterhin Zugang zu diesen Menschen haben können. In Zusammenhang mit der reduzierten Besetzung der Sozialdienste und dem eingeschränkten Zugang zu Bildungs- und Freizeitangeboten müssen alternative Angebote geschaffen werden, die geflüchtete Kinder und Jugendliche in allen Wohnformen erreichen;
  • 03. unmittelbares Recht aus Kitazugang und Schulpflicht für geflüchtete Minderjährige in allen Bundesländern einzuführen und geeignete bildungsfördernde Angebote zu etablieren, um Benachteiligungen bei Fernunterricht von geflüchteten Kindern und Jugendlichen abzubauen, sowie alle Unterkünfte mit WLAN auszustatten;
  • 04. kindgerechte Informationen über die Maßnahmen und Informationen im Kontext der Pandemie in verschiedenen Sprachen flächendeckend bereitzustellen;
  • 05. Kindern und ihren Familien uneingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung im Kontext von Corona zu gewähren;
  • 06. das Verfahren auf Familiennachzug weitestgehend zu digitalisieren und die personellen Kapazitäten entsprechend zu erhöhen, sollte dies nicht umzusetzen sein. Weiter soll von einer Neuüberprüfung von Antragsvoraussetzungen zur Familienzusammenführung abgesehen werden, vor allem der besonderen humanitären Gründe gemäß § 23 AufenthG im Neuvisierungs-Verfahren;
  • 07. die Kontingentregelung zur Familienzusammenführung abzuschaffen oder zumindest alle nicht ausgeschöpften Kontingente zu übertragen. Außerdem soll eine großzügige Fristverlängerung für alle coronabedingten verstrichenen Fristen ermöglicht werden;
  • 08. sich in der europäischen Asylpolitik dafür einzusetzen, dass auch da sämtliche Kinderrechte und insbesondere das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen sind;
  • 09. Rassismus im Zusammenhang mit Corona entschieden entgegenzutreten;
  • 10. Erhebungen zur Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in der Ausnahmesituation der Pandemie anzuregen und zu finanzieren, um die Missstände sichtbar zu machen.
Nächstes Kapitel
6.a Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge